Lebendige Geschichte: 250 Jahre Kaiserstraße

Monatelang durfte ich im Auftrag des Offenbacher Amtes für Öffentlichkeitsarbeit die Archive durchstöbern und die spannende Geschichte der Kaiserstraße – eine der wichtigsten Achsen der Stadt – anhand von historischen Akten, Originaldokumenten, Zeichnungen und Fotos rekonstruieren. Viele Dokumente, die ich fand, sind in der Ausstellung erstmals zu sehen und eröffneten dem Publikum einen völlig neuen Blick auf die genau einen Kilometer lange, kerzengerade Straße.

Rund 100 Gäste kamen zur Vernissage der Ausstellung.

Rund 100 Gäste kamen zur Vernissage der Ausstellung.

Der Grund für meine Tätigkeit als Kurator: Bei der Arbeit an meinem Buch „99mal Offenbach“ in den Jahren 2011 und 2012 entdeckte ich im Stadtarchiv in einem historischen Aufsatz aus der Jahrhundertwende zu einem ganz anderen Thema den Halbsatz, die Straße sei 1766 angelegt worden. Ich machte ein Notiz, die fast in Vergessenheit geriet.

2015 fand ich sie wieder, rechnete kurz nach und stellte fest: 2016 wird die Kaiserstraße 250 Jahre alt – sollte der uralte Hinweis stimmen. Einen Beleg hatte ich nicht, denn das 18. Jahrhundert ist in den Archiven der Stadt kaum erschlossen. Die Öffentlichkeitsarbeit der Stadt Offenbach beauftragte mich dennoch mit der Spurensuche – und schließlich fand ich den eindeutigen Beleg: Ein Edikt des damaligen Fürsten Wolfgang Ernst II. zu Ysenburg vom 15. Mai 1766.

Es ist sehr viel Aufwand und Präzision nötig, um aus einem guten Thema eine spannende Ausstellung zu entwickeln. Bis zum Schluss

Es ist sehr viel Aufwand und Präzision nötig, um aus einem guten Thema eine spannende Ausstellung zu entwickeln. Bis zum Schluss.

Damit konnte die Arbeit an der Ausstellung beginnen. Nach vielen Stunden in den verstaubten Kisten des Stadtarchivs und das Sichten hunderter Dokumente auf Mikrofilm wartete die nächste Herausforderung: Die möglicherweise die Geschichte erhellenden Akten sind vom Secretarius des Fürsten in Kanzleischrift geschrieben worden, die heute nur noch Schriftexperten lesen können. Ich fand sie in der Offenbacher Schreibwerkstatt Klingspor. Dankwart und Gunhild Samel, die viele Jahre lang die Schreibwerkstatt leiteten, übertrugen die bis dahin unerschlossenen Dokumente in über 300 Stunden Arbeit. Denn die Akten sind nicht nur in der damals noch ungeregelten deutschen Sprache verfasst worden, sondern sie wechseln zwischen Deutsch, Französisch und Lateinisch – manchmal innerhalb eines Satzes.

So lagen hunderte Puzzleteile vor mir, von denen ich nicht wusste, zu welchem Puzzle sie gehören könnten. Teil für Teil formte sich ein Bild, das andere Akten bestätigten oder revidierten. In der Recherche der späteren Jahre entdeckte ich wunderbare Fotos aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, die sich als für die Stadt einzigartige Zeitdokumente vorstellten. Daraus entstand schließlich die von der Offenbacher Grafikerin Petra Baumgardt gestaltete Ausstellung in vier Zeitabschnitten mit wandgreifenden Überschriften, Einführungstexten, Zitaten und erklärenden Bildzeilen.

Die spannende Geschichte der Straße lässt sich in wenigen Absätzen zusammenfassen: Im Jahr 1766 wurde die Kaiserstraße als noch namenloser Weg durch ein neues Bauquartier am Westrand Offenbachs angelegt. Damals lebten etwa 4500 Einwohner im Ort. Die Verbindung führte zwischen der Geleitsstraße bis etwa zur heutigen Bernardstraße durch Äcker, Wildnis, Wiesen und Gärten. Das Hochwasser des noch nicht kanalisierten Mains überschwemmte sie regelmäßig. Den „Weg nach dem Mayn“, wie der unbefestigte Feldweg auf einem Plan von etwa 1750 genannt ist, durchzog bald ein breiter Kanal. Er war Teil eines längst vergessenen Entwässerungssystems und sollte zudem die Westgrenze Offenbachs sichern, denn die Stadtmauer war dort seinerzeit lückenhaft. So entstand ihr erster Name: Canalstraße.

Der 31-jährige Fürst Wolfgang Ernst II. von Ysenburg und Büdingen hatte das Vorhaben in seinem Edikt vom 15. Mai 1766 beschlossen. Der Grund: Der alte Offenbacher Ortskern war zu eng geworden, neue Häuser konnten dort nicht mehr gebaut werden. Auch für Manufakturen und Fabriken gab es keinen Raum mehr – doch Fürst Wolfgang Ernst wollte sein Offenbach erweitern. Er machte so den ersten, entscheidenden Schritt in der Entwicklung der heutigen Stadt. Die Ausstellung zeigt deutlich, dass das Nordend, das Westend sowie die westliche Innenstadt im Lauf der folgenden Jahre und Jahrzehnte nur dieses Edikts entstehen konnten.

Der junge Fürst gewährte Neubürgern, die dort Häuser bauen wollten, Steuerfreiheit – aber nur denen, die eine Manufaktur oder Fabrik errichteten. Er machte Vorgaben zur Gestaltung der Fassaden, zudem sollte die neue Straße dieselbe Breite wie die zentrale Frankfurter Straße erhalten. Schließlich verließ Wolfgang Ernst sein altes Schloss und zog in ein modernes Palais, das er an der Ecke Frankfurter Straße und Canalstraße bauen ließ. Damals entstanden entlang der Straße viele prächtige Anwesen, in denen vor allem Offiziere, Adlige, Fabrikanten, Bankiers und wohlhabende Bürger wohnten. Im Jahr 1804 wurde der stinkende Kanal überwölbt, die Straße mit Baumreihen zur Allee verwandelt. Eine feine Prachtpromenade entstand, die in der Stadt bald „Seufzerallee“ hieß. Dort lebte beipsielsweise Graf Emanuel de Las Cases, der Weggefährte und weltbekannt gewordene Biograf Kaiser Napoleons und der damals im ganzen Land berühmte Komponost Wilhelm Speyer – der Udo Jürgens seiner Zeit.

Die Ausstellung zeigt mit Zeichnungen und Fotos, wie sehr ihre Bedeutung in der schnell wachsenden Stadt wuchs: Auf der Canalstraße fand von 1828 bis 1836 die Frankfurter Messe statt, 1848 entstand an ihrem Rand der Lokalbahnhof, 1876 wurde sie an den neuen Bebraer Bahnhof (heute Hauptbahnhof) verlängert. Damals erhielt sie ihren heutigen Namen: Kaiserstraße. Lederfabriken wurden dort errichtet, das Amtsgericht und die Stadtverwaltung hatten dort ihren Sitz, das Hospital und eine Handelsschule. Viele Häuser aus dem 18. Jahrhundert fielen in der wilhelminischen Ära, um höheren, teils prächtigen Gebäuden Platz zu schaffen.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die historische Bausubstanz wertlos geworden. In den 1950er bis in die 1970er Jahre fielen den neuen Gestaltungsformen die letzten historischen Häuser aus der ersten Bauzeit zum Opfer. Der stetig wachsende Autoverkehr veränderte dazu den Charakter der Straße ebenso wie der Strukturwandel der Stadt in den 1970er Jahren. Nun ist sie wieder zum Thema der Stadtplanung geworden: Die alte Pracht soll wieder ein wenig neu entstehen. Mit Baumreihen und breiten Bürgersteigen soll sie schon bald wieder zum Flanieren einladen.

 

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